Kunstszene Zürich 1975
Kunsthaus Zürich und Helmhaus
P. Wd. Die «Kunstszene Zürich 1975» - so heisst heuer die jedes Jahr um diese Zeit fällige Ausstellung der Zürcher Künstler, zu der die Präsidialabteilung der Stadt Zürich ihre Guten Dienste leiht - hat dieses Mal zwei Schauplätze: dankbar nimmt man es entgegen, dass es nur zwei sind! Es werden dem Besucher laut Katalog von A bis Z nicht weniger als 638 Arbeiten zugemutet, so dass es gut tut, unterwegs eine Pause einzulegen. Also, was den vom Besucher abverlangten Einsatz betrifft, etwas wie eine verkleinerte Züspa-Ausstellung. In Oerlikon draussen nimmt man die Strapazen lächelnd hin und ist am Ende noch stolz auf die erbrachte Marschleistung.Bis zu einem derartigen Gefühl der Befriedigung bringt man es hier aber nicht.
Über die Zulassung zur Kunstszene 1975 hatte im Unterschied zur Ausstellung in den Züspahallen eine Jury zu befinden. Zu beneiden war sie für ihren Auftrag nicht, erfährt man doch aus dem «Bericht der Jury» auf den ersten Seiten des Katalogs, dass die zugelassenen 638 Nummern nur rund 23 Prozent der ihr vorgelegten Arbeiten darstellen. Offenbar werden dem einzelnen Teilnehmer höchstens sechs Werke zugebilligt; ob um der Raffung und der guten Präsentation willen nicht auch fünf oder vier hätten genügen können? Diese Frage stellt man sich in einigen «Zonen» des grossen Raumes im Kunsthaus, vor allem aber im Helmhaus, wo die Bilder streckenweise so eng angereiht sind, zum Teil übereinander hängen, Fenster verstellt werden, der Treppenaufgang dicht besetzt und eine Arbeit sogar hinter die Abschrankung verwiesen ist, dass sich das Gefühl drangvoller Enge und - Übersättigung einstellt.
Im Helmhaus sind - immer laut Katalog «Abstrakte und Konkrete» untergebracht, im Kunsthaus die «Gegenständlichen» und «Neue Tendenzen». Warum aber wer wo eingereiht ist, will nicht immer einleuchten. Diese Frage stellt sich nicht, weil etwa die Aufnahme ins Kunsthaus ein Mehr an Ehre bedeuten könnte. An beiden Orten ist nämlich «Neuen Tendenzen» zu begegnen, haben etliche Werke Experimentiercharakter, stellen sich deren Autoren dieselben Fragen, etwa die, wie sicher ein Ding eigentlich in seiner Form sitzt….
…Im übrigen stellt man Tendenzen und Präferenzen fest: das sozialkritisch-satirische Engagement (Schweizer Kreuz und Coca-Cola, «Solidaridad») und Protest; die sexuelle Emanzipation (die mitunter etwas neurotisch wirkt), das Spiel mit Kitsch und volkstümlicher Idylle (meist humorlos), kaum etwas Naives, das profitable Thema der von der Profitgier geschändeten Natur, dann das Bemühen, hart am Realen zu bleiben, nicht nur in der Manier des Photorealismus, sondern im Festhalten einer Abfolge von Momenten, um der Situation und ihrer Verwandlung habhaft zu werden. Auffällig ist die Vorliebe für Montagen und kontrastierende Anreihung von Dingen und Zeichen zu Bilderbogen, oft unter Einbezug der Schrift, dann, als bemerkenswerte Erscheinung, das Suchen nach dem gesicherten Gegenstand und dessen gleichzeitiger Auflösung und Zerfall.
(Bis 4. Januar)
© Neue Zürcher Zeitung 1975
Neu auf der "Kunstszene Zürich" 1975
Zu den Überraschungen der diesjährigen «Weihnachtsausstellung» gehört die Tatsache, dass auf der Zürcher Kunstszene ein Szenenwechsel stattgefunden hat. Zürcher Kunst - das hiess bis anhin Zürcher Konkrete und Zürcher Phantasten. Zu diesen beiden Gruppierungen, die ihre Süppchen zur Stunde auf kleinem Feuer köcheln - die Ausstellungen im Kunsthaus und im Helmhaus erwecken wenigstens diesen Eindruck -, stösst nun mit Vehemenz und Vitalität eine dritte: noch nie haben sich so viele Künstler mit der Beziehung Individuum-Umwelt, Individuum-Gesellschaft auseinandergesetzt. Mario Comensoli und Hugo Schuhmacher, die jahrelang mehr oder weniger allein eine Kunst mit dem Anliegen der Darstellung gesellschaftlicher Veränderungen vertraten, sehen sich nun umgeben von Leuten, deren Weg sich mit ihrem kreuzt, zusammenläuft oder wenigstens in die Nähe gerät. Auffällig häufig begegnet man im Kunsthaus beispielsweise dem Thema der heutigen Wohnlandschaft. Urs Bänninger, Klaus Born, Peter Bräuninger, Geoffrey David Williams, Cristina Fessler, Vre Greile, Wilhelm Jaeger beschäftigen sich mit ihr. Während die einen Künstler ihrem Unbehagen mit leisen Andeutungen Ausdruck geben, entschliessen sich andere zu plakativen Formulierungen. Die Hausfassade mit aufgebrochener, schwärender Wunde, gemalt vom jungen Aldo Schmid, relativiert die kultische Ueberhöhung des Wohnens im Grünen - daher wohl das Stonehenge-Motiv -, macht die Triumphe der Vorfabrikation zu Stätten des Elends. - Weitere Namen (Pierre Brauchli, Arno Fimian, Remo Roth, Werner Stirnimann u. a.) tragen wesentlich zum Eindruck bei, dass Zürich der «Tendenzwende» nicht nur getrotzt hat, sondern auf sie sogar etwas zu entgegnen vermag.
© (Bild Metzger)
Viele neue Akteure auf der "Kunstszene" Zürich 1975
(TA) Die «Weihnachtsausstellung» der Zürcher Künstler 1975/76 brachte Rekordbeteiligung: 742 Anmeldungen, über 3500 Werke. 942 Arbeiten von 246 Künstlern bestanden vor dem Urteil der sechsköpfigen Jury. Davon beherbergt bis zum 4. Januar 1976 das Kunsthaus etwa zwei Drittel (Figuration, Pop, gesellschaftskritischer Realismus, Objektkunst, Arte povera) und ein Drittel das Helmhaus (Abstrakte, Konkrete). Das Kunstgewerbemuseum war nicht in der Lage, ebenfalls Ausstellungsraum zur Verfügung zu halten, wie es sich in den Jahren 1972/73 d. h. in der Zeit zwischen den beiden bisher durchgeführten «Juryfreien» in den Züspahallen gut eingespielt hatte. Diesen Platzausfall haben wir auf der Kulturseite bereits als unerfreuliche Fehldisposition gerügt. Zwei unserer Kunstkritiker besuchten die diesiährige Weihnachtsausstellung: Cécile Matzinger sichtete die Werke im Helmhaus, Fritz Billeter diejenigen im Kunsthaus.
Was sich bis anhin traditionell «Ausstellung der Zürcher Künstler» nannte, heisst dieses Jahr «Kunstszene Zürich 1975», und diese Namensänderung hat ihre Berechtigung. Die Jury hat nämlich gleichzeitig zwei Aspekten gerecht zu werden versucht: Sie hat, wie üblich, diejenigen Arbeiten ermittelt, die ihrer Ansicht nach grösstmögliche künstlerische Qualität aufweisen. Sie hat aber ebenfalls berücksichtigen wollen, was es für Tendenzen in Zürich mit dem Anspruch auf Kunst gegenwärtig überhaupt gibt. Dieser Versuch zur möglichst umfassenden Information und Dokumentation macht sich bereits im Foyer des Vortragssaals bemerkbar (wohin der Eingang wegen der Umbauten am Kunsthaus verlegt werden musste). Heinrich Neugebauer, 1905 geboren und früher wiederholt abgewiesen, zeigt hier einen konventionell und sauber gearbeiteten, dem Rodinschen Impressionismus verpflichteten
«Sinnenden Jüngling» in Bronze, während die marmorne «Frau mit der Schlange» von Josef Wyss, der uns stets als Vertreter der blockhaft-geometrisierenden «Zürcher Schule» bekannt war, eine überraschende, aber bedenkliche Kehrtwende in Richtung auf einen bürgerlich-erotischen Stil «um 1900» markiert. Zu rühmen dagegen sind neben der vornehm-verschlossenen Stelenskulptur von Oedön Koch die geradezu magisch zu nennenden Konfrontationen zwischen gemaltem Porträt (oder Charaktermaske) und der plastischen Figur, wie sie von Hans Peter Weber und Stephan Troxler unternommen wird. Auf dem Heimplatz steht die Gruppe der «Sanktionatoren» von Roland Hotz. Dieser Plastiker hat mit selten einfühlender Geduld den Werkstoff Marmor bearbeitet, ihm aggressiv vorprellende Formen abgewonnen, seine Figurenbüsten aber auf unglückliche Eisengestelle gehisst, so dass sich (wohl unfreiwillig) auch eine Groteskwirkung einmengt.
Der dem Tod benachbarte Erotismus (bronzeüberzogene Knochen und Schädel von Rindern mit dem Hohlformfragment eines Frauenkörpers kombiniert) von Jürg Altherr hat, meiner Meinung nach zu Unrecht, der Jury offenbar nicht sonderlich behagt; sonst hätte nicht nur dieser eine Beitrag von Altherr, der zudem unglücklich plaziert ist, den Weg ins Kunsthaus gefunden.
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